Die meisten Anlagen- und Sondermaschinenbauer sind agil – aber sie verstecken es sehr gut vor sich selbst. Mit agil meinen wir: Die Auftragsabwicklung ist in der Lage, mit heftigen Überraschungen in der Wertschöpfung umzugehen. Lieferanten liefern spät? Es gibt technische Hürden, die wir nicht erwartet hatten? Der Kunde ändert seine Meinung?
Blöd – aber kriegen wir hin. Wir können damit gut umgehen. Wir tun es ja ständig… Maschinenbauer würden das nie so beschreiben, denn die meisten verachten sich selbst für ihre Kernkompetenz: Der konstruktive Umgang mit Kunden, die zu Projektbeginn noch nicht wissen können, was genau gebraucht wird. Sie – also die Maschinenbauer – nutzen (meist vollkommen unbewusst) den recht souveränen Umgang mit der Unklarheit des Kunden als Waffe im Wettbewerb.
Diskrepanz von Wunsch & Realität
ABER: Anlagenbauer sehnen sich nach vollständig geklärten Aufträgen. Konstruktionsleiter lieben Checklisten, die der Vertrieb auszufüllen hat. Konstrukteure hassen Änderungen nach Auftragsstart, denn das wirft die Wochenplanung, das Budget und alle anderen, gut sortierten Erwartungen völlig über den Haufen…
Nebenbei: Das Management fordert effiziente Prozesse in Konstruktion und Produktion sowie Baukastensysteme für den Vertrieb. Und klar, wenn Entwicklung und Vertrieb marktfähige Modularisierung zustande bringen und der Markt konfigurierte Maschinen kauft: Saugut! Dann ist die Auftragsabwicklung sehr viel mehr von Routine geprägt. Die Materialversorgung wird einfacher. Improvisation wird unbedeutend. Routine führt zu Effizienz. Prima. Die Realität bei den allermeisten Maschinenbauern ist aber anders: Der Umgang mit unklaren Aufträgen ist Tagesgeschäft – denn der Traum vom verkaufbaren Baukasten scheitert. Und selbst wenn 80% oder mehr der Maschine gleich sind: Insbesondere „in der Applikation“, „in der Kundenanwendung“ oder in der Anbindung an andere Systeme muss konstruiert, entwickelt, projektiert – also gemeinsam mit Kollegen und Kunden gelernt werden. Deshalb können diese Maschinenbauer mit Überraschungen umgehen. Anders könnten sie das Kundenproblem nicht lösen. Bei vielen Anlagen- und Maschinenbauern ist genau diese Fähigkeit Teil der Kernkompetenz. Blöd ist nur, dass die Organisation heftig gegen ihre eigene Kernkompetenz kämpft. Nicht selten sehnen sich Mitarbeiter und Management nach VIEL MEHR KLARHEIT. Entsprechend dieses Wunsches werden dann auch Regeln erlassen.
Beispiele sind:
- Langläufer dürfen erst nach AE oder nach der Fertigstellung der Konstruktion ausgelöst werden die Logistik bekommt ab jetzt alle Teile für die Montage auf einen Rutsch
- die Projektplanung und der Vertrieb machen ab jetzt eine realistischen Projektplan – an den sich dann alle halten
- die Konstruktion gibt keine späten Nachträge mehr frei, die dem Einkauf das Leben schwer machen
- die Montage arbeitet in Takten
Heimliche Problemlösung
Die funktionale Organisationsstruktur, der Glaube an die positive Wirksamkeit von lokalen Abteilungs-Ziele und der Hang, verordnete oder erwünschte Prozesse als Lösung für mehr Effizienz zu sehen, passt nicht gut zur notwendigen Kernkompetenz im Maschinenbau. Der Zwang, unpassende Prozesse und Ziele zu befriedigen, bremst die Entfaltung der Fähigkeit, Probleme abteilungsübergreifend adäquat und schnell zu lösen. Aber: Ein Unternehmen, das im Angesicht überraschender Wertschöpfung nicht agil handelt, geht unter. Deshalb sind die meisten Sondermaschinenbauer ‚irgendwie agil‘. Die Leute in der Wertschöpfung organisieren das auf dem kleinen Dienstweg und durch konstruktiven Ungehorsam. Sie bauen sich ein U-Boot, indem die echte Problemlösung, die echten Experimente unsichtbar für das Management stattfinden können. Das ist aufreibend und kostet Energie. Darüber hinaus verlieren Wertschöpfung und Management das Vertrauen zueinander. Deshalb ist es wirtschaftlich klug, die eigene Kernkompetenz zu würdigen, gezielt zu kultivieren und dadurch besser zu nutzen.
Experiment
Fragen Sie in einem ‚geschützten Raum‘ in kleinen Grüppchen 5 bis 10 verdiente Mitarbeiter nach ihren Erfahrungen mit Prozessen und Abteilungszielen. Welche davon stehen der Arbeit im Wege. Wenn sie die Wahl hätten: Welche Prozesse und Ziele würden sie abschaffen? Welche Kennzahlen stören die Wertschöpfung – weil sie falsche Anreize setzen? Welche Arten von Kontrollen (Meilensteine, Budgets, …) führen zu Vertuschung, Schweigen und Heuchelei?
Und dann, wenn Sie sich trauen: Zeigen sie dem Management diese Erkenntnisse. Schlagen sie vor, in Zukunft folgendermaßen zu verfahren: Wenn angesehene Mitarbeiter der Meinung sind, dass bestimmte Prozessabschnitte nicht sinnvoll sind, dann dürfen diese eigenmächtig entscheiden, anders vorzugehen.
Bedingung: Sie müssen es den Betroffenen (und ggf. dem Management) mitteilen. Dann kann man gemeinsam
darüber reflektieren, wie die Wertschöpfung besser werden kann. Und dann kann auch wieder Stolz auf Kernkompetenz entstehen.